«Der Hockeygott blickt mit Wohlwollen auf uns herab»
Krasse Aussenseiter haben bei einer WM schon oft einem Titanen getrotzt. Aber noch nie zweimal hintereinander in weniger als 48 Stunden wie soeben in Prag. Österreich macht am Dienstagabend im Schlussdrittel gegen Weltmeister Kanada aus einem 1:6 ein 6:6 und verliert erst in der Verlängerung. Am übernächsten Tag folgt bereits in den Nachmittagsstunden ein historischer Sieg gegen die ausgeruhten finnischen Olympiasieger (3:2).
Zwei Sensationen durch das gleiche Team in weniger als 48 Stunden. Das hat es so spektakulär noch nicht gegeben. Die Finnen haben schon einmal in Prag eine schmähliche WM-Niederlage mit dem gleichen Resultat hinnehmen müssen. Sie verlieren am 11. April 1972 gegen die Schweiz 2:3.
Die Erklärung ist damals einfach: Es handelt sich um einen besonders krassen Fall von Unterschätzung und Arroganz. Die Schweizer haben gegen die CSSR 1:19, gegen Schweden 1:12 und gegen die UdSSR 2:10 verloren. Als sie am Spieltag im Mannschaftshotel beim Frühstück sitzen, sehen sie zu ihrer grossen Verwunderung, wie die letzten finnischen Spieler nach einer wilden, durchzechten Nacht ins Hotel zurückschleichen. Die Ausgeschlafenen und Nüchternen werden die Unausgeschlafenen und Alkoholisierten besiegen. Es wird der einzige Punktgewinn für die Schweizer bleiben. Sie steigen ab.
Aber für die 2:3-Pleite gegen Österreich gibt es für die Finnen keine Ausrede. Sie sind nüchtern, ausgeschlafen und gewarnt. Sie haben zwei spiel- und skandalfreie Tage hinter sich. Sie treten mit der bestmöglichen Formation an. Alle haben mitbekommen, wie die Österreicher gegen die kanadischen NHL-Profis in weniger als 20 Minuten aus einem 1:6 ein 6:6 gemacht haben. Und doch siegt Österreich.
Austria wins first ever game against Finland at #MensWorlds!🇦🇹🔥 #MensWorlds #FINAUT @eishockey_aut pic.twitter.com/t7zg2qYmtg
— IIHF (@IIHFHockey) May 16, 2024
Auch deshalb, weil so viel Arno Del Curto und so viel Schweizer Hockey im Team von Roger Bader steckt. Bernd Wolf (Lugano, nächste Saison Kloten) macht den Operetten-Josi und hat mit Plus-6 die beste Plus/Minus-Bilanz des Teams. Ambris Schillerfalter Dominic Zwerger ist der «Leventina-Fiala» mit der besten Statistik der Stürmer (4 Punkte/+4), Benjamin Baumgartner (Bern) mit 3 Toren der treffsicherste Angreifer. Kilian Zündel, in Ambri ein Hinterbänkler unter den Hinterbänklern (diese Saison nur 14 Spiele), hat sich schon mit 13 Minuten Eiszeit pro Partie bewährt. Und Vinzenz Rohrer durfte sich als fleissiger Fräser schon zwei Assists notieren lassen.
Ja, wo wäre Österreich ohne seine «Schweizer» an der Bande und auf dem Eis. Was die Sensation noch aufwertet: Alles läuft gegen die Österreicher. Die Finnen sind gewarnt und parat und führen schon nach 9 Minuten 2:0. Im Schlussdrittel verweigern die Skandal-Schieds- und Videorichter dem durch und durch regulären 2:2 von Dominic Zwerger die Anerkennung und Finnland bekommt ob der missglückten Coaches Challenge ein Powerplay zugesprochen. Aber dann fällt der Ausgleich zum 2:2 doch (50). In der Schlussphase schicken die parteiischen Unparteiischen auch noch Bernd Wolf auf die Strafbank (57.). Für ein Vergehen, das keines war.
Aber anders als die Schweizer sind die Finnen nicht dazu in der Lage, gegen die Österreicher ein geschenktes Powerplay in der Schlussphase zum Siegestreffer auszunützen. Sie haben halt keinen Roman Josi. Statt das 2:2 über die Zeit zu retten und wenigstens einen wundersamen Punktgewinn zu sichern, stürmen die Österreicher in der letzten Minute gegen den sichtlich konsternierten Favoriten wild und mutig nach vorne. Zwei Zehntelsekunden vor Schluss trifft Benjamin Baumgartner unhaltbar zum 3:2.
Nicht oft gibt es so sympathische Sieger. Die Österreicher haben halt noch keine rechte Übung im geschäftsmässigen Beantworten von Fragen nach grossen Siegen. Vincenz Rohrer (soeben mit den ZSC Lions Meister geworden) ist seltsam heiser. Auf entsprechende Nachfrage sagt er: «Ich habe nach dem 3:2 so laut gejubelt, dass ich fast die Stimme verloren habe.»
Ambris Dominic Zwerger findet schöne, ja poetische Worte: «Der Hockeygott sieht in Prag mit Wohlwollen auf uns herab.» Er habe das Gefühl, noch nie so gut gespielt zu haben. «Praktisch jeder im Team spielt sein bestes Hockey. Das macht diese Resultate erst möglich.»
Die Stimmung im Team mahne ihn an Ambri. Emotionen, Zusammenhalt und Spielfreude. Der Mut und die Frechheit, auch gegen die Titanen jede Gelegenheit zum Gegenangriff zu nützen, nie passiv auf den Fersen, sondern immer kampfbereit auf den Zehenspitzen zu stehen: In diesem Team steckt viel von Arno Del Curtos Philosophie. «Arno ist super», sagt Dominic Zwerger. «Arno gibt immer wieder wertvolle Tipps», bestätigt Vincenz Rohrer.
Cheftrainer Roger Bader und sein Assistent Arno Del Curto bilden das ungewöhnlichste Trainer-Duo dieser WM. Arno ist das Phantom in einer grandiosen österreichischen Hockey-Oper. Er huscht nur ab und zu, beinahe gespenstisch durchs TV-Bild. Ansonsten ist er fast so unsichtbar, aber eben auch so einflussreich wie im Roman von Gaston Leroux das echte Phantom der Oper. Nach dem Spiel zieht sich der ehemalige HCD-Kulttrainer sofort in den Mannschaftsbus zurück. Damit er ja nicht irgendwo Red und Antwort stehen muss.
Also beantwortet Roger Bader freundlich und geduldig die Fragen der Chronistinnen und Chronisten. Er spricht vom schönsten Sieg, seit er im Herbst 2017 die Nationalmannschaft in der Doppelrolle Sportdirektor/Nationaltrainer übernommen hat. «Ich habe nach dem 3:2 richtig gejubelt.» Das sei sonst ganz und gar nicht seine Art. Er sei halt zurückhaltender Schweizer. Und wie es gute helvetische Art ist, mahnt er zur Bescheidenheit: «Unser Ziel ist es, zum dritten Mal hintereinander den Klassenerhalt zu schaffen. Davon sind wir noch weit entfernt.»
Entgegen allen Hockey-Lehren ist Österreich mit Torhütern erfolgreich, die nicht einmal eine Fangquote von 86 Prozent erreichen. Aber irgendwie stoppen sie die Pucks. Roger Bader sagt mit entwaffnender Ehrlichkeit: «Ich weiss auch nicht, warum unsere Goalies funktionieren. Ich habe schon lange aufgehört, darüber nachzudenken.»
So steht also die Hockeywelt in Prag auf dem Kopf. Roger Bader wird von einem nicht-österreichischen Chronisten gefragt, wie er nun im Spiel gegen Tschechien am Freitagabend mit der Favoritenrolle zurechtkomme. Österreich (Nummer 16 der Weltrangliste) Favorit gegen Tschechien (Nr. 8)? Verrückt geworden? Nein, nein, das sei ernst gemeint, wird Roger Bader entgegnet. Österreich habe doch gegen Weltmeister Kanada das Schlussdrittel 5:0 gewonnen, Olympiasieger Finnland gebodigt und vor zwei Jahren auch die bisher letzte WM-Direktbegegnung gegen Tschechien 2:1 nach Penaltys gewonnen.
Also ist nun Österreich folgerichtig klarer Favorit. Oder? Roger Bader ist nicht ganz sicher, ob da jemand versucht, ihn auf den Arm zu nehmen. Also sagt er: «Wenn wir so denken, geht es aber ganz schnell bergab.» So denkt er nicht und die Chancen stehen gut, dass der Hockeygott in Prag weiterhin mit Wohlwollen auf seine Österreicher herabsieht und seinen Segen zum Klassenerhalt geben wird.